P. Kury: Grenzen setzen

Cover
Titel
Grenzen setzen. Vom Umgang mit Fremden in der Schweiz und den USA (1890-1950)


Autor(en)
Kury, Patrick; Lüthi, Barbara; Erlanger, Simon
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 24,90
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Marcus Pyka, Lecturer for Modern European History, University College Dublin

“Give me your tired, your poor,/ Your huddled masses yearning to breathe free.” Diese Zeilen aus Emma Lazarus’ Gedicht „The New Colossus“ von 1883 zieren noch immer den Sockel der Freiheitsstatue in New York, und wenngleich nicht erst seit dem 11. September 2001 Zweifel an der Rückhaltlosigkeit dieser willkommen heißenden Geste angebracht zu sein scheinen, so ist es doch gerade aus europäischer Perspektive immer wieder angebracht, die „Alte“ und die „Neue Welt“ in ihrer Auseinandersetzung mit „dem Fremden“ nicht losgelöst von einander zu betrachten. Genau dies leistet der hier vorzustellende Band von Patrick Kury, Barbara Lüthi und Simon Erlanger zum Umgang mit dem Fremden in der Schweiz und den USA mit Schwerpunkt auf der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Zwischenkriegszeit in aufschlussreicher Weise. Die Studie ist das Ergebnis eines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projektes, in dem insbesondere der Überfremdungsdiskurs in der Schweiz sowie die schweizerischen Lager während des Zweiten Weltkriegs untersucht wurden sowie diese Entwicklung mit den Vereinigten Staaten verglichen wurde. Dementsprechend bildet Nordamerika mehr eine Vergleichsfolie als einen eigenständigen Forschungsgegenstand. Gleichwohl lohnt das Unterfangen, insbesondere was Fragen des Selbst- und Fremdbildes angeht, und auch die Wahl des Vergleichs ergibt Sinn, als sich sowohl die USA als auch die Schweiz – als einzige demokratische Bundesstaaten im 19. Jahrhundert – als „Willensnationen“ politisch-republikanisch definierten. Wie diese Selbstdefinition dann insbesondere in der Schweiz in die Praxis umgesetzt wurde, zeichnet der Band in anregender Weise nach.

Dabei wird insbesondere die herausragende Bedeutung einer Selbstdefinition ex negativo deutlich, eine Erkenntnis, deren verschiedene Implikationen die kenntnisreiche Einleitung konzise in den hier relevanten Theorie- und Methodendebatten verortet. Nicht von ungefähr gilt die Aufmerksamkeit der Studie in zentralem Maße dem schweizerischen Diskurs um „Überfremdung“. Wie es scheint, ist dieser heute noch immer und auch in Deutschland so populäre Begriff 1900 erstmals von dem Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid schriftlich verwendet worden und machte dann rasch Karriere: Bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er Eingang in die Amtssprache in der Schweiz gefunden, und er erwies sich als geradezu ideal für den Fall der Eidgenossenschaft, um eine nationale Einheit zu kreieren, ohne die sprachliche, konfessionelle und kulturelle Heterogenität des Landes in Frage zu stellen.

In der noch immer vom freihändlerischen Liberalismus geprägten Welt vor dem Ersten Weltkrieg war es einer übergroßen Mehrheit absurd erschienen, Einbürgerungen von einer ‚helvetischen Gesinnung’ abhängig zu machen, ungeachtet polemischer Auseinandersetzung um essentialistische „Kernschweizer“ und solcher Eidgenossen, die es nur auf dem Papier sein mochten. Wie in so vieler Hinsicht war auch hier der Krieg 1914-1918 die zentrale Wendemarke, hin zu einer restriktiveren Einwanderungspolitik. Überdies, so zeigen Kury, Lüthi und Erlanger überzeugend, hatte der idealtypische Fremde im Schweizer Diskurs mittlerweile ein konkretes Aussehen erhalten, dasjenige eines so genannten Ostjuden nämlich. Wenngleich Migrant/innen aus dem Zarenreich und den ehemals polnischen Territorien nicht einmal 5% der Ausländer ausmachten (die übergroße Mehrheit stammte zu dieser Zeit aus den direkten Nachbarländern der Schweiz), so waren „Ostjuden“ als oftmals leicht erkennbare und überdies politisch nicht repräsentierte Gruppe ideal als Projektionsfläche für Ängte und Unsicherheitsgefühle, eine Herausstellung, die sich dann insbesondere nach Einsetzen der Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland als fatal für viele Betroffene erweisen sollte.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs tendierte die Politik der Eidgenossenschaft immer stärker in Richtung Abwehr und Exklusion von Zuwanderern, was stetig sinkende Ausländerzahlen zur Folge hatte. Auch die Einbürgerungspolitik spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle hierbei. Dabei fanden sich immer mehr Stimmen, die – im Kontext etwa von ständestaatlichem und antiindividualistischem Denken – sogar einem schweizerischem „Staatsvolk“ samt einem ius sanguinis als Grundlage das Wort redeten. Die Bundesbehörden verankerten diesen Trend schließlich in der Gesetzgebung mit dem Gesetz über „Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern“ (ANAG) von 1931, das bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Rolle der Schweiz als bestenfalls einem Transitland für Migrant/innen, nicht aber als Stätte von Zuzug oder Asyl definierte. Damit einhergingen, so die Autor/innen, die Betonung des Gender-Aspekts für die Staatsbürgerschaft (wie in den USA seit 1907 verlor eine Schweizerin das Bürgerrecht im Falle einer Heirat mit einem Nichtschweizer), sowie die drastische Medikalisierung von Staatsangehörigkeit in der Konstruktion von Vorstellungen von einem „gesunden Volkskörper“.

So überzeugend diese Befunde sind, ihre Präsentation in der Studie büßt leider auf Grund der gerade hier zerfasernden Argumentationsstruktur ein: Die Teile zum entsprechenden US-Diskurs bleiben weitgehend unverbunden, und auch zur Schweizer Geschichte hätte sich der Rezensent hier eine etwas weniger aspekthafte Herangehensweise gewünscht. Dies gilt etwa für die Entwicklung der Notverordnungen hin zum ANAG, oder auch für einige der Protagonisten der helvetischen Diskurse.

Der dritte Schwerpunkt des Bandes schließlich verzichtet nahezu ganz auf einen direkten Vergleich mit den USA. Hingegen arbeitet er heraus, wie schließlich die helvetische Überfremdungsabwehr zwar triumphierte, aber dann auch auf die Widersprüche in ihren eigenen Überzeugungen stieß: Denn einerseits wurde zwar der Drang zur Exklusion von Fremden inmitten des Zweiten Weltkriegs durch die Einrichtung von Sammellagern manifest (die Exklusion sogar in zweifachem Sinne, da diese (Arbeits-)Lager wiederum nicht innerhalb des Reduit eingerichtet wurden). Andererseits aber hatten diese Lager auch ein bedeutendes Erziehungsziel – nämlich mehr oder minder deutlich „helvetische“ Tugenden und Werte zu vermitteln, ausgerechnet an jene Unerwünschten, die beständig daran erinnert wurden, dass die Schweiz lediglich ein Transitland für sie sein könne.

Wenngleich sich Kury, Lüthi und Erlanger mit der Art und Weise ihres vergleichenden Ansatzes keinen Gefallen getan haben, was einen geschlossenen Eindruck ihres Buches angeht, so sei abschließend doch kein Zweifel daran gelassen, dass einiger Erkenntniswert gerade aus der vergleichenden Perspektive zu den USA herrührt. Denn nicht nur die empfehlenswerte Einleitung wäre wohl ohne diese Perspektive deutlich anders ausgefallen, auch die abschließende Zusammenfassung profitiert ganz deutlich davon. Allein ob die Darstellung der amerikanischen Verhältnisse so ausführlich ausfallen musste, erscheint doch eher fragwürdig. Nichtsdestoweniger handelt es sich bei diesem materialreichen (und dabei sympathisch kurzen) Werk um eine unbedingt bemerkenswerte Untersuchung, auch über den europäischen Sonderfall Schweiz hinaus.

Redaktion
Veröffentlicht am
22.12.2006
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Region(en)
USA
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